Gutmensch

 Eigentlich bin ich ein guter Mensch.

Ich bin pünktlich, fleißig, diszipliniert, reflektiert,

angepasst, besonnen, kirchlich, sozial und demokratisch.

Ich helfe Schwangeren über die Straße

und wertschätze gestörte Kinder und verbitterte Alte.

Ich vermeide Kokain und Legebatterien,

bewege mich in der Natur

und spende für den Regenwald.

Alle sollen sehen, dass ich ein guter Mensch bin,

dafür hinterlasse ich schweißperlend, gute Eindrücke.

Und manchmal erröte ich vor Stolz,

wenn ich in den Spiegel schaue

Außerdem liebe ich Wein, Weib und Gesang,

esse gerne fette Haxen,

lungere vor dem Fernseher rum,

pflege meine Süchte,

mache einen großen Bogen um die Arbeit,

tratsche über Nachbarn und Kollegen,

schwelge in Genüssen und Rachegelüsten,

spüre große Lust, gestörte Kinder und verbitterte Alte

an die Wand zu klatschen,

verprasse sinnlos meine Spendengelder

und bin leidenschaftlich

unchristlich, unsozial und undemokratisch.

Meist erröte ich in solchen Momenten etwas weniger,

genieße stattdessen das Prickeln trocknenden Schweißes.

Immer dann, wenn ich begreife,

dass in mir Gott und Teufel, Heiliger und Hure wohnen,

wird aus dem Schweißprickeln ein Herzjucken,

weil das Herz sich ausdehnen will.

Dann beginne ich,

mich ein klein wenig zu verstehen und zu mögen,

ein erster kleiner Schritt,

andere zu verstehen und zu mögen.

Mich und andere nicht mehr zu belehren, zu reglementieren,

zu pädagogisieren, zu psychologisieren, zu theologisieren,

zu bewerten und zu beurteilen.

Ein erster kleiner Schritt.

Für heute erstmal genug.

Ich begreife,

dass das Eingestehen meiner Begierden, und Untugenden

der Weg ist, sie nicht mehr alle haben zu müssen.

Ich muss mir auch von mir selbst

nicht mehr alles gefallen lassen.

Jemand, dessen Gott Tugend, Gehorsam, Willkür,

Begierde und Askese verordnet,

hat einen schweißtreibenden Gott.

Der Gott aber, bei dem ich in keinem Augenblick

meines Lebens erröten muss,

verordnet Welpenschutz, Narrenfreiheit,

Augenhöhe, Heiligenstatus und Gnade.

Wer könnte sich da mit mir vergleichen können.

Ich, der ich jetzt endlich nicht mehr

so viel Theater um mich selbst machen muss,

muss weder zwanghaft sein, noch willkürlich.

Ich lass mich von Gnade tragen

und von sonst nichts.

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